Harald Derschka erhielt Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen

12. Februar 2025 | News

Der Überlinger Kursaal war randvoll, als der Konstanzer Historiker Harald Derschka am 9. Februar für seine „Geschichte des Klosters Reichenau“, erschienen im Kunstverlag Josef Fink, mit dem Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen geehrt wurde. Nachfolgend dokumentieren wir die Laudatio von Siegmund Kopitzki.

Foto: Oberbürgermeister Jan Zeitler (rechts) überreicht den Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen an Harald Derschka. Foto: Helmut Voith

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Zeitler,
verehrte Anwesende,
lieber Herr Professor Derschka!

Erlauben Sie mir ein längeres Zitat:

„Wenn wir begreifen wollen, wie das Land am Bodensee zu einem geistlichen Treffpunkt Europas wurde, müssen wir es nicht als das Ferienparadies betrachten, das heute vor uns liegt, sondern als die Wildnis, die vor 1400 Jahren den ersten Mönchen vorschwebte. Sie kamen von weit her, aus Irland und Frankreich, und was sie suchten, war keine Heimat, sondern ein Exil, in dem sie mit Gott und ihrer Seele allein sein könnten. Hier fanden sie einen unheimlichen See: Über ihm Stürme und Nebel, in seiner Tiefe Wasserteufel. In den Ebenen Bären und Schlangen, auf den Bergen Wetterhexen. Hier bauten die Mönche seit dem siebten Jahrhundert Einsiedeleien.“

Diese zwischen Dichtung und Wahrheit schwimmenden Worte, unser Preisträger wird ihren Ursprung sofort erkannt haben, sind Arno Borsts „Mönche am Bodensee. Spiritualität und Lebensformen vom Mittalter bis zur Reformationszeit“ entnommen. Das Buch, 1978 erschienen, galt damals als die umfassendste Publikation zum Mittelalter am Bodensee.

Borst war einer der wirkungsmächtigsten europäischen Historiker des 20 Jahrhunderts. Er lehrte an der Universität Konstanz, wo Harald Derschka als außerplanmäßiger Professor Wissen vermittelt. Konstanz ist auch meine Alma Mater. Borst war einer meiner Lehrer. Er erhielt 1979 für die „Mönche am Bodensee“ den Literaturpreis der Stadt Überlingen. Die damalige Jury darf auf ihre Entscheidung stolz sein.

Auch wenn der 1954 gestiftete Preis, der die hiesige Autorenschaft sowie regionale Themen im Blick hat, bisher überwiegend an Belletristen ging, an Romanciers und Lyriker, immer wieder wurden auch Wissenschaftler, Historiker und Philosophen ausgezeichnet. Der erste Preisträger in dieser Reihe überhaupt war Wolfram von den Steinen. Er widmete sein Buch dem St. Galler Mönch und Dichter Notker. Zuletzt konnte Werner Mezger 2001 den Preis für das „Große Buch der schwäbisch-alemannischen Fasnacht“ entgegennehmen.

Heute dürfen wir also Harald Derschkas „Geschichte des Reichenauer Klosters“ würdigen. Er ist der 43. Preisträger.

Das Buch erschien zum Jubiläumsjahr „1300 Jahre Reichenau“, das mit einer Großen Landesausstellung in Konstanz und mit einem kleineren Format im Museum der Insel gefeiert wurde. Die Hauptthese der Ausstellungen war, dass mit den Klöstern die Wurzeln Europas neu entstanden sind. Wir vergessen leicht, dass die Abteien zwar religiöse Zentren waren, aber auch Herrschafts- und Verwaltungssitze, ordnende Institutionen und kulturelle Leuchttürme, die weit über den jeweiligen Standort hinausstrahlten. Das gilt ganz besonders für die Benediktinerabtei Reichenau in frühmittelalterlicher Zeit.

Die Klosterinsel kommt im Übrigen nicht aus dem Feiermodus heraus: Im Jahr 2000, also vor 25 Jahren, erhielt sie den Titel „UNESCO Weltkulturerbe“

Das Buch „Geschichte des Reichenauer Klosters“ ist kein Zufallsprodukt. Harald Derschka, in Konstanz geboren, forscht dazu seit Jahrzehnten. 2018 veröffentlichte er die „Reichenauer Lehenbücher der Äbte Friedrich von Zollern (1402-1427) und Friedrich von Wartenberg (1428-1453)“; vier Jahre darauf hat er die „Quellen zur Wirtschaftsgeschichte der Abtei Reichenau aus der Zeit Johann Pfusers von Nordstetten als Großkeller (1450-1464) und Abt (1464-1491)“ bearbeitet. Gemeinsam mit Jürgen Klöckler und Thomas Zotz gab er 2017 die Festschrift für den Konstanzer Stadtarchivar Helmut Maurer heraus.

Das sind Publikationen, die nicht das breite Publikum erreichen, im Unterschied zu seinem jüngsten Werk, aber bei den Fachkollegen Anerkennung gefunden haben.

Seine „Geschichte des Klosters Reichenau“ ist ein Schwergewicht. Zwei Kilo Papier. Das Buch im Lexikon-Oktave-Format hat 456 Seiten Umfang. Der Autor gliedert die lange Geschichte der Abtei in 50 Einzelkapitel, die dem historischen Ablauf bis in die Neuzeit folgen – die Große Landesausstellung endete im späten 12. Jahrhundert. Die klare Ordnung des Buchs erleichtert die Lektüre. Auch die Entscheidung, die Debatte um Quellen und ihre Interpretation in die Fußnoten zu verbannen. Das Buch kann mittendrin aufgeschlagen und gelesen werden, zumal thematische Überschneidungen nicht ausgeschlossen werden können.

Im Kapitel (51): „Wie schreibt man die Reichenauer Geschichte?“, werden die bisherigen Überlieferungen der Geschichtsschreibung diskutiert. Der Historiker Harald Derschka gewährt darin aber auch einen Einblick in die Mühsal der Arbeit. Der Geschichtsarchäologe Borst sprach mit Blick auf die jeweilige Forschungs- und Quellenlage mit lakonischem Ernst von seinen „Totengesprächen“. Eine Erfahrung, die Harald Derschka nicht fremd sein dürfte.

Seine Konsequenz im „Casus“ Reichenau: „Gegenstände aus der Klostergeschichte wurden verschiedentlich festgehalten, ohne dass sie sich zu einer zusammenhängenden Geschichtserzählung fügen ließen“. Gerade bei den Anfängen der Reichenauer Geschichtsschreibung sei „die lebendige Erinnerung verloren gegangen, an ihre Stelle trat die literarische Aneignung der Vergangenheit“. – Wir kommen noch darauf zurück.

Selbstkritisch – und ja, bescheiden – notiert er, dass seine „Darstellung unvollständig (sei), vorläufig und zeitgebunden“; das in ihr gezeichnete Gesamtbild habe an Prägnanz verloren, entspreche aber, „besser den vergangenen Vorgängen und Zuständen“. Das ist so!

Im Kapitel 52 legt er eine „Liste der Reichenauer Äbte, Prioren, Superioren und der Pröpste“ vor. Im Kapitel 53 folgt ein 40-seitiges Quellen- und Literaturverzeichnis. Das Opus Magnum schließt mit dem Orts- und Personenregister sowie dem Nachweis der verwendeten Abbildungen: Neun doppelseitige Bildtafeln und Übersichtskarten bereichern den Band. Harald Derschka transkribiert fast alle abgebildeten lateinischen und griechischen Textstellen der Urkunden. – Wie gebildet ist doch dieser Mann…

Sorgen um die Rezeption seines Werks – auch in Fachkreisen – muss sich unser Preisträger nicht machen. „Das vorliegende Buch schließt als neue Edition eine wertvolle Lücke zur Geschichte des Klosters Reichenau“ schreibt etwa Martin Heinz in den „Geldgeschichtlichen Nachrichten“ (Heft 336, 2024). Der Titel der Zeitschrift zeigt an, welches Thema den Rezensenten interessiert: das Münzwesen. Eine Nebensache bei Harald Derschka.

Zweites Beispiel: „Es ist unverkennbar ein neues Standardwerk der südwestdeutschen Landesgeschichtsschreibung entstanden, ein Werk, das – in Anlehnung an Ferdinand Gregorovius‘ monumentaler ‚Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter‘ – als eine Glocke bezeichnet werden könnte, die ‚noch von manchem Küster geläutet werden‘ wird“.

Jürgen Klöcker, Nachfolger von Helmut Maurer im Amt des Stadtarchivars, stimmt dieses Hochlob in den „Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung“ an (124. Heft, 2024). Die Jury des Literaturpreises kann sich ihm vorbehaltlos anschließen. Um im gewählten Bild zu bleiben: Wir läuten hier und heute die Glocke.

Klöckler zufolge löst Harald Derschkas „aus einem Guss“ verfasste „Geschichte“ auch den 1925 erschienenen und seinerzeit gefeierten Doppelband „Die Kultur der Abtei Reichenau“ als Standardwerk ab. An dem damaligen Druckwerk wirkten 33 Autoren mit. Der Anlass für die Publikation, herausgegeben von Konrad Beyerle, Münchner Professor mit Konstanzer Wurzeln, war die 1200-Jahrfeier der Abtei.

Die einschüchternde Monumentalität der Festschrift Beyerles habe die weitere Forschung aber „eher gehemmt als gefördert“, stellte schon Maurer 1974 fest. Harald Derschka nimmt diese Feststellung auf und entscheidet, „‘Die Kultur der Abtei Reichenau‘ in den verdienten Ruhestand der Wissenschaftsgeschichte zu verabschieden“. Beyerle habe im Wesentlichen nur das Geschichtsbild weitergetragen, das sich in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert entwickelt und aus einer Art „Niedergangserzählung“ (Klöckler) bestanden habe: Beginn – Aufstieg – Blütezeit – Zerfall der Abtei, zu der auch viele „Nebenkirchen“ gehörten, eine der frühesten gab es in Schienen auf der Höri. 860 lebten dort 32 Mönche.

Mit seinem Buch gelingt es dagegen Harald Derschka, wie er selbst schreibt, „aus der reichen Forschungstradition ein ausgewogenes Bild des Klosters Reichenau zu gewinnen – nicht als Organismus, der wuchs, blühte und verging, sondern als Gemeinschaftswerk der Beteiligten, die ihr Handeln den Erfordernissen der jeweiligen Gegenwart anpassen mussten. Das bedeutet zumal den Verzicht auf den überstrapazierten ‚Niedergang‘ als Erklärungsmodell“.

Die vermeintliche Apokalypse der Abtei Reichenau – Kapitel 35, 44 und 47 beschreiben den Zustand in der frühen Neuzeit, in der sie (1541) in das Bistum Konstanz inkorporiert und schließlich 1757 aufgehoben wurde – entzaubert Harald Derschka als das, was sie war: als eine konstruierte, immerzu weitergetragene Geschichtserzählung. An dieser Stelle zeigt er aber auch auf, wie die Reichenau vom Bauernkrieg, von der Reformation, der großen Pest und dem Dreißigjährigen Krieg erschüttert wurde. Ereignisse, die gesellschaftliche und politische Veränderungen nach sich zogen und denen sich das Kloster ausgesetzt sah.

Soweit meine Anmerkungen zum „Disput“ innerhalb der historischen Wissenschaft. Das ist nicht die ganze Geschichte. Natürlich nicht. Aber diese Lesereise ist noch nicht zuende. Erlauben Sie mir zunächst einen Blick in die Jetztzeit: Beeindruckend ist ja, dass die „mentalitätsprägende Kraft des Klosters“ (Derschka) bis in unser Jahrhundert überdauert, wenngleich nur noch wenige Mönche die Tradition der Abtei symbolisch weiterführen.

Im seinem Buch beschäftigt sich Harald Derschka auch mit der „Gemeinde Reichenau als Erbin des Klosters“. Zur kulturellen Identität der Insel gehören – um ein Beispiel zu geben – drei außerordentliche und in der Öffentlichkeit vielbeachtete Feiertage: das Fest des Heiligen Evangelisten Markus, das Heiligblutfest und Mariä Himmelfahrt. An diesen Tagen ruht das Geschäftsleben auf der Reichenau, die Häuser werden beflaggt, die historische Bürgerwehr zeigt sich stramm, Trachtengruppen sowie die kirchlichen Vereine werden aktiv.

Meine Damen und Herren, das ist nicht (nur) bildertaugliche Folklore, schon gar nicht ein leeres Ritual, sondern demonstrativ gelebte, also praktizierte Geschichte. Die Erklärung dazu im Buch von Harald Derschka: „Die Gegenwart des Klosters war für die Bewohner der Insel Reichenau eine Tatsache, die nicht nur ihren Alltag, sondern auch in ihr Fühlen und Denken, in ihre Lebensentwürfe eingriff. Für das 17. und 18. Jahrhundert lässt sich das klar sehen, für die vorangegangenen Jahrhunderte vermuten.“

Dazu trägt „die weitgehende Homogenität der Reichenauer Bevölkerung bei“, wie Klöckler in der Rezension anmerkt, „die vielfach verschwägert und versippt war, alemannischen Dialekt sprach und sich katholisch und heimattreu gebar“. – Diese Insulaner waren schon immer etwas anders, heißt es über ihre Bewohner. Hier haben wir eine seriöse Erklärung dafür…

Aber wann begann das benediktinische Leben auf der Insel, das nicht nur aus Gottesdiensten, Lesungen und Gebeten bestand? Die Mönche arbeiteten gemäß der Devise „ora et labora“ in Werkstätten, im Garten oder aber auf dem Feld. Viele Generationen nach ihnen machten die Bewohner aus der Kloster-Insel die bekannte „Gemüse-Insel“.

In den eingangs zitierten Sätzen aus Borsts Buch „Mönche am Bodensee“ gibt es den Hinweis auf irische Mönche, die am See Einsiedeleien gründeten sowie die Beschreibung einer unwirtlichen Gegend voller Schlangen.

Als Gründer des Klosters Reichenau gilt der Wandermönch Pirmin. Aber schon die Frage nach seiner Herkunft – Irland – gibt Rätsel auf. Und erst recht der Zeitpunkt der Gründung der Abtei. Wir lesen dazu bei Harald Derschka: „Die angebliche Gründungsurkunde von 724 ist eine Fälschung des 12. Jahrhunderts, und das Leben Pirmins wurde erst ein Jahrhundert nach seinem Tod als Legende aufgezeichnet“. An die Stelle der lebendigen Erinnerung trat die literarische Aneignung der Vergangenheit. Die Anfangszeit des Klosters kann daher nur in Umrissen erfasst werden. Dennoch zeigt sich unser Preisträger diplomatisch, wenn er schreib: „Nehmen wir es also als gegeben an, dass Pirmin, wie die Tradition es will, 724 das Kloster Reichenau gründete – wenngleich keine Gewissheit darüber besteht“.

Dem Thema Urkundenfälschungen (im 10. und 12. Jahrhundert) widmet er ein eigenes Kapitel (13). Von einer regelrechten „Fälscherwerkstatt“ ist die Rede. Auch andere Klöster fälschten Urkunden, nicht nur die Reichenauer – wobei manchem Mönch wohl das schlechte Gewissen plagte. Sie waren keine Verbrecher, nimmt sie Harald Derschka in Schutz, denn „sie beabsichtigten in aller Regel keine Schädigung Dritter, sondern die Verteidigung aus ihrer Sicht wohlerworbener Güter und Rechte ihres Klosters gegen fremden Zugriff. Diesem Ziel dienten Schenkungs- oder Bestätigungsurkunden, die den fraglichen Besitz möglichst alt erscheinen ließen und auf besonders angesehene Aussteller zurückführten.“

Eine Übersichtskarte im Kapitel 6 des Buchs dokumentiert die gewaltigen Schenkungen aus königlichem, hochadligem sowie sonstigen Besitz.

Aber was hat es mit den Schlangen auf sich, werden sie sich fragen? Die Geschichte, wie sie Harald Derschka erzählt: Pirmin, zur Regierungszeit des fränkischen Königs Theuderich IV. (721-727) Bischof im Castrum Melcis, wurde von dem alemannischen Adligen Sinlaz eingeladen, um den christlichen Glauben des Volkes zu stärken. Pirmin willigte ein, erhielt den Segen des Papstes und erbat sich die Reichenau als Ort für das Gotteshaus.

Aufgrund ihrer geographisch bedingten Isolation war die Insel ein naheliegender Ort für eine Klostergründung. Sinlaz entsprach dem Wunsch Pirmins, warnte ihn aber vor den Schlangen, die die Insel für Menschen unbewohnbar machten. Der Wanderbischof setzte dennoch auf die Reichenau über, worauf die Reptilien flohen und ins Wasser stürzten… Die Insel wandelte sich zu einem Ort der Fülle und des Überflusses und schenkte so den Mönchen einen Vorgeschmack des Paradieses, dem sie entgegenstrebten.

Diese Happy Ending Story wurde Mitte des 9. Jahrhunderts im Kloster Hornbach verfasst, der letzten Gründung und der Begräbnisstätte des Hl. Pirmin. Die Reichenau hätte gerne seine Gebeine auf ihrem Grund und Boden begraben; die religiöse Anziehungskraft des Klosters Reichenau beruhte daher im Wesentlichen auf dem Reliquienschatz und den Gebeinen des Evangelisten Markus, der, wie gehört, bis heute verehrt und gefeiert wird.

Wie nun ist die Schlangen-Metapher zu interpretieren, die auch anderorts im Zusammenhang mit Klostergründungen zu beobachten war? Nach Harald Derschka steht die Metapher als Sinnbild für Häresie und insbesondere für das „arianische Christentum“, das Jesus Christus zu einem eher untergeordneten Geschöpf Gottes gemacht hat. Vermutlich lebten auf der Insel noch einige arianische Christen, denen mit dem Kloster der römisch-katholische Glauben an die Dreifaltigkeit vermittelt werden sollte. Das war wohl der erste Gründungsgrund.

Auch wenn zurecht Zweifel an der „Niedergangserzählung“ der Klosterinsel bestehen – das Narrativ über ein „goldenes Zeitalter“ der Reichenau in karolingischer und ottonischer Zeit, das sich Schenkungen verdankte und die Insel zu einem politischen und kulturellen Zentrum Europas machte, ist auch für Harald Derschka unstrittig (nachzulesen in den Kapiteln 2 bis 15). Der Beginn dieses Zeitalters ist mit Abt Waldo (786-806) verbunden, der im Umfeld Karls des Großen, dem bekanntesten Karolinger der Geschichte, „Karriere“ machte.

Waldos Nachfolger war Heito I. Er wurde 768 als Fünfjähriger dem Kloster übergeben. Als Abt gab er u.a. den Neubau der Klosterkirche in Auftrag, von der im Ostteil des heutigen Münsters noch Teile erhalten sind. Weltberühmt ist der 825 während seiner Regentschaft entstandene „St. Galler Klosterplan“, der einzig erhaltene Architekturplan des frühen Mittelalters. Er liegt in der Stiftsbibliothek St. Gallen – dort Teil des Weltkulturerbes.

Den Plan erarbeiteten der Bibliothekar Reginbert und sein Gehilfe Walahfrid Strabo. Sie versteckten darin auch das Vergil-Zitat „Hier soll der Gast die Kirche betreten oder verlassen; / und ebenso die schöne lernende Schuljugend“, ein Zeichen ihrer Bildung. Natürlich in lateinischer Sprache, die im Reich Karls des Großen als Standardsprache galt und auf der Insel gelehrt wurde.

Einer der Lehrer der Klosterschule war zu Beginn des 9. Jahrhunderts ein Mönch namens Wetti, der zur ersten Generation der Reichenauer Literaten zählt. Wetti verfasste (um 820) das erste erhaltene größere Werk der Reichenauer Literatur, und das gleich mit einer Lebensbeschreibung des heiligen Gallus. Bekannt ist Wetti jedoch durch die dramatischen Umstände seines Todes am 4. November 824. Der Mönch hatte ein Visionserlebnis, dass er Heito diktierte. Entstanden ist ein schmuckloses Protokoll, dass dennoch viele Leser fand.

Aber es gibt auch eine Bearbeitung der Nahtoderfahrung Wettis in geschliffenen Versen durch Walahfrid Strabo. Er war ein Schüler von Wetti, später Abt und damit Kopf von mehr als hundert Mönchen. Als Wetti starb, war Walahfrid 17 Jahre alt. Seine Dichtung „De visio Wettini“, vergleichbar mit Dantes Seelenreise „Göttliche Komödie“, hat für Harald Derschka eine ganz besondere Bedeutung. Er erkennt darin einen Beleg für die Entstehungsgeschichte unseres modernen europäischen Bildes vom Menschen als autonomer Person. Und das ist ein Wort, meine Damen und Herren. Es sagt mir: Wir sollten Strabo lesen um zu erfahren, woher wir kommen!

Strabo zählte zu den bedeutendsten Dichtern der Karolingerzeit und gilt als Exponent einer literarischen Bewegung, die sich zum Ziel setzte, Gedichte und Prosatexte mindestens so kunstvoll zu formulieren, wie es die großen antiken Meister getan haben. Das sieht auch Harald Derschka so. Es würde zu weit führen, Strabos Texte im Detail zu würdigen – zu seinen berühmtesten Schriften gehört bekanntlich sein „Hortulus“, ein Lehrgedicht über den klösterlichen Gartenbau. Aber ein Hinweis sei mir erlaubt.

Walahfrid, von der Insel zum Studium nach Fulda in die kalte Rhön abkommandiert, schuf dort aus Verzweiflung ein kunstvolles Gedicht mit 14 Strophen, in dem er die Reichenau als seine insula felix, als glückselige Insel rühmt: das „Metrum saphicum“. Es ist die erste bekannte Heimatode der deutschen Literaturgeschichte und eine der Schönsten. Bruno Epple, Maler und Dichter von der Höri, der 1991 den Überlinger Literaturpreis erhielt, hat dieses „Lob der Reichenau“ text- und taktgenau ins Alemannische übertragen.

Dass Strabo weit weg von der Reichenau in der Loire ertrank, ist kein Zufall. Die Reichenauer Mönche waren nicht nur Stubengelehrte, insbesondere die Äbte waren oft unterwegs und im besten Sinne Netzwerker. Das spiegelt sich im Reichenauer „Verbrüderungsbuch“ wider, in dem 38.000 Namen stehen, für die im Kloster gebetet wurde.

Das Exemplar ist die umfangreichste überlieferte Handschrift dieser Art. Darunter sind Mönche, Kaiser, Könige, Päpste, Bischöfe und Pilger verzeichnet, über 100 Klöster und geistliche Gemeinschaften. Es ist ein „Who is Who“ des Mittelalters, das die Verschränkung von monastischer Frömmigkeit und herrschaftlicher Machtausübung dokumentiert. Das dreiteilige Buch wurde bis ins 12. und 13. Jahrhundert geführt. Dieses „Netzwerk“ war nicht zuletzt ein Mittel der Abtei, um die eigene Herrschaft zu sichern.

Zu den namentlich bekanntesten Reichenauer Literaten zählt auch Bern, der in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts 40 Jahre Abt war. Sein Werkverzeichnis umfasst Schriften zu Liturgie und Theologie sowie zur Theorie der Musik, Briefe, Dichtungen und Predigten. Sein populärstes Werk ist vermutlich die „Lebensbeschreibung des heiligen Bekenners und Bischof Ulrich“ von Augsburg. Diese Heiligenvita gehört, wie die Gallusvita des Wetti, zum größten zusammenhängenden Corpus an Reichenauer Literatur des 10. bis 11. Jahrhunderts, der Hagiographie, und das sind Texte, die überwiegend von verehrten Heiligen handeln.

Wer von Abt Bern spricht, so wird gesagt, muss den Namen von Hermann Contractus nennen, besser bekannt als Hermann der Lahme. Ein Universalgenie. Zeitgenossen bezeichnen ihn respektvoll als „Stephen Hawking des Mittelalters“. Der körperbehinderte Mönch verfasste eine Weltchronik, „das beste Geschichtsbuch des 11. Jahrhunderts“, wie Borst rühmte. Das beweist den kühnen Anspruch, von der Insel aus die ganze Weltgeschichte zu verstehen und sie vermitteln zu wollen.

In Hermanns zweiten Arbeitsbereich, der Mathematik, schuf er die Grundlangen für die christliche Zeitrechnung. Aus der Erfahrung heraus, dass es für den Gottesdienst nötig war, die Stunden der Tage und Nächte genau zu berechnen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Strahlkraft des Klosters in seiner Zeit am Erlöschen war. Trotz Diethelm von Krenkingen (1169-1205), dem markantesten Abt der Stauferzeit und (ab 1189) in Personalunion Bischof von Konstanz.

Das Personenregister in Harald Derschkas „Geschichte des Klosters Reichenau“ umfasst 15 Seiten. Sie werden sich, meine Damen und Herren, nicht alle Namen merken können. Habe ich auch nicht. Macht nichts.

Aber was mich beeindruckte: mit welcher Souveränität und Sympathie Harald Derschka die wichtigsten Protagonisten in seine große Geschichtsarbeit einbindet. Aber er hat auch ein freundliches Wort für die Nebendarsteller. Dabei bleibt er bei den Quellen, ohne sie zwanghaft beim Nennwert zu nehmen. Er präsentiert neues Wissen, eröffnet neue Horizonte, ohne aber seine Leser zu belehren. Das ist eine, das ist seine Kunst!

Ich komme zum Ende. Aber erlauben Sie mir noch zwei, drei Seiten in diesem uneitlen Buch zu blättern und einige Worte über die Reichenauer Buchmalereien, die in ottonischer Zeit entstanden sind. Sie besitzen einen herausragenden kulturellen Rang. Auftraggeber waren Kaiser, Reichsfürsten, aber auch Bischöfe. Wissenskultur und ihre Vermittlung hatte im frühen Mittelalter ihren Sitz in den Klöstern. Zumal auf der Insel. Das sollte sich mit der Gründung von Universitäten und Kathedralschulen ändern. Der erwähnte Lauf der Dinge.

Von der Reichenau haben sich 70 Prachthandschriften erhalten, zehn davon zählen zum Weltdokumentenerbe, fünf wurden in der Landesausstellung ausgestellt, darunter der „Codex Egberti“ (977/993). Diese Handschrift enthält den ältesten Bilderzyklus zum Leben Christi, der mit 51 Miniaturen gleichzeitig zu den umfangsreichsten des Mittelalters zählt. Die Klosterbibliothek enthielt in ihren besten Tagen mehr als 400 Handschriften. Sie gehörte damit zu den bedeutendsten Wissensspeichern des Mittelaltalters.

Noch ein Nachwort zur Baugeschichte der Reichenau: Das mächtigste Baudenkmal ist die Klosterkirche. Hier können Besucher eine Abteikirche der Karolingerzeit besichtigen, von der Teile noch stehen. Das wichtigste Kunstwerk der Insel befindet sich in der Kirche St. Georg in Oberzell: Eine Säulenbasilika des späten 9. Jahrhunderts, die den bedeutendsten Zyklus frühmittelalterlicher Wandmalerei nördlich der Alpen überliefert. Eine Freskofolge, detailgenau von Harald Derschka beschrieben. Hatto III., als Erzkanzler des Reiches im 9. und 10. Jahrhundert einer der mächtigsten Äbte, hatte das Schädelstück des Hl. Georg auf die Insel bringen lassen und für die Reliquie die Kirche erweitern ließ.

Meine Damen und Herren, die Jury des Bodensee-Literaturpreises hat sich für einen Historiker und ein Werk ausgesprochen, das dazu auffordert „Bekanntschaft mit Menschen zu schließen, die hier gelebt haben, die (…) für weit mehr, für heute noch sichtbares Kulturgut den Grund gelegt haben, als man dies zunächst für möglich gehalten hätte. Geschichte wird ein gelebter, auf uns zu gelebter Zusammenhang“.

Mit diesen Sätzen laudierte Bruno Boesch seinerzeit Arno Borsts „Mönche am Bodensee“. Ich verwende sie mit voller Überzeugung für das kapitale Werk von Harald Derschka, das auch in seiner sprachlichen Ausgestaltung lobens- und bewundernswert ist – das ist nicht ganz unwichtig, schließlich vergeben wir einen Literaturpreis. Ich will nicht noch einmal die Borst-Schule bemühen, aber Harald Derschka steht mit diesem klaren und mühelosen Gebrauch der Sprache in dieser Linie.

Was mich besonders freut: Harald Derschkas „Geschichte des Klosters Reichenau“ ist ein Zeichen dafür, dass sich die Forschenden der Universität Konstanz nicht vom Bodenseeraum verabschiedet haben.

Zuallerletzt: Meine Damen und Herren, ich war, wie OB Zeitler eingangs schon sagte, viele Jahre Mitglied der Jury Bodensee-Literaturpreis. Gemeinsam mit Manfred Bosch räume ich meinen Platz. Es war mir eine Ehre, dabei gewesen zu sein. Ich wünsche der Institution „Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen“ weiterhin viel Zuspruch und der künftigen Jury eine glückliche Hand bei der Auswahl der Preisträger.

Ich danke Ihnen für Ihre Engelsgeduld!

 

 

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